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Nachts in den Bergen

Nachts in den Bergen

 

von Jürgen-Thomas Ernst, er verbrachte als Stipendiat beim Nationalparks Austria Medienstipendium 2021 zwei Wochen auf einer entlegenen Alm inmitten des Nationalpark Gesäuse.

 

Er lag schon seit Tagen die meiste Zeit im Bett. Sein linkes Knie schmerzte so sehr, dass er es kaum hinüber bis zur Küche schaffte. Aber er war nicht allein. Eine Hummel hatte sich in die Jagdhütte verirrt und summte oft durch das Zimmer. Manchmal schwieg sie, um danach mit frischer Energie erneut los zu brummen. Meistens blickte er im Liegen aus dem Fenster. Weit vorne am Horizont kroch Nebel eine Felswand hinab. Er musste an eine Vanillecreme denken, die langsam einen Schüsselrand hinunter rann. Zwischen Felswand und Hütte erstreckte sich ein schütteres Meer aus Nadelbäumen. Dazwischen wuchsen Gräser und Bergblumen. Durch das Fenster der Hütte, die oben auf einem Hügel stand, sah er gleich in der Nähe die Spitze einer Fichte, die im Wind hin und her wankte. Und manchmal tauchte hinter der Fußlehne des Bettes ein Falter auf, der rasch wieder verschwand, wiederkehrte und abermals verschwand.

„Wie auf einer Achterbahn,“ dachte der.

So verging der Tag. Als es dämmerte, hörte er das Bellen eines Rehbocks. Ein Tannenhäher krächzte und später, kurz bevor es dunkel wurde, sangen in der Krone der Fichte etliche Meisen. Zwischen Wachsein und Schlaf hörte er die Vögel noch zwitschern. Dann verflüchtigte sich ihr Gesang in die Ferne. Er war eingeschlafen.

Irgendwann in dieser Nacht erwachte er. Es hatte zu regnen begonnen. Er hörte das Wasser vom Ende der Holzrinne auf die Traufsteine ticken. Das linke Knie schmerzte noch immer und plötzlich fragte er sich:

„Wie lange reichen die Vorräte noch?“

„Brot,“ flüsterte er. „Butter, eine halbe Gurke, Ennstaler Käse, eine Speckseite, Nudeln, Reis und zwei Konservendosen mit Tomaten.“

An den ausgestreckten Fingern zählte er die Tage ab, die er noch hier sein würde.

„Sieben, acht, neun. Das geht sich nicht mehr aus“, sagte er ohne lange nachzudenken.

Wenn sich das mit dem Knie nicht besserte, müsste er die letzten drei Tage hungern. Denn erst dann würde man ihn von hier abholen.

Das schlimmste war, dass er niemanden um Hilfe bitten konnte, denn hier in der Jagdhütte und in der näheren Umgebung war sein Mobiltelefon vollkommen nutzlos. Er hätte eine Stunde marschieren müssen, um zu einer Kuppe zu gelangen, die hinab ins Tal blickte. Erst von dort wäre es möglich gewesen, jemanden zu erreichen.

„Keine Chance“, sagte er. „Vollkommen ausgeschlossen, dorthin zu gelangen.“

Der Regen hatte zugenommen. In der Ferne toste ein Bach. Sein Herzschlag ging ruhig. Noch wusste er nicht, was sich in dieser Nacht alles ereignen sollte und schon in naher Zukunft auf ihn wartete.

© Lennart Horst

 

 

Er streckte sein linkes Bein durch und ächzte. Danach schob er ein Kissen unter das Knie, denn das linderte den Schmerz.

„Du wirst deine Rationen verkleinern und aus den Kräutern, die vor der Hütte wachsen, Salate zubereiten müssen.“

Er dachte gerade an einen Teller mit dampfender Rindssuppe, als er wieder in einen Dämmer sank. Der Regen hatte weiter zugenommen. Von weit weg drang das Prasseln in seine Gedanken. Er war kurz davor gewesen wieder einzunicken, als er plötzlich erschrak und wieder hellwach in seinem Bett lag. Er hörte den Regen, das Plätschern auf die Traufsteine und das Tosen des Bachs. Er hörte wie der Regen ins tiefe Gras rauschte und auf das Dach trommelte. Aber zwischen diesen Geräuschen hatte er auf einmal etwas anderes gehört. Und das, was er vernommen hatte, gehörte nicht hier her, das wusste er sofort. Aber sie waren da, verwaschen zwar, aber trotzdem ganz deutlich. Musik. Ja, das war ganz eindeutig Musik und Stimmen, menschliche Stimmen.

„Das kann nicht sein“, flüsterte er. „Vollkommen unmöglich.“ Denn mindestens eine Wegstunde um die Jagdhütte herum gab es nichts. Keine weitere Hütte, keine Menschen, keinen Strom, nichts.

„Verrückt“, sagte er. „Vollkommen verrückt.“ Und gleichzeitig spürte er wie sein Herz zu hämmern begann.

Er hörte Violinen, Tuben, eine Ziehharmonika. Er hörte es Klatschen und er hörte singende Stimmen von Frauen und Männern.

Ja, unten auf dem Karrenweg zog Musikantengruppe vorüber.

„Das gibt es nicht,“ flüsterte er. „Das ist unmöglich.“

Während er es sagte, erhob er sich aus dem Bett. Das linke Knie schmerzte bei jedem Schritt. Aber er musste jetzt zum Fenster. Er musste das jetzt genauer hören. Er öffnete die Flügel und horchte aufmerksam hinaus. Es bestand nicht der geringste Zweifel. Das war Musik. Das war ganz eindeutig Musik. Er hörte Violinen, Tuben, eine Ziehharmonika. Und ja, er hörte sogar die Schellen einer Teufelsgeige.

Er blickte aus dem Fenster, obwohl es unmöglich war, den Weg zu sehen, denn da war diese dunkle nächtliche Wand, da war der dichte Regen und da waren vor allem die Bäume, die ihm selbst bei bestem Licht den Blick versperrt hätten.

„Wohin?“, fragte er sich. „Wohin gehen Sie? Und vor allem, woher kommen sie?“

Der nächste Ort war weit entfernt. Mindestens vier Wegstunden. Unmöglich, dass sie bei diesem Regen zu Fuß den Weg hier herauf gegangen sein konnten.

© Heinz Peterherr

 

 

Er horchte hinter den Regenvorhang und in die Nacht. Die Fichte vor der Hütte stand inzwischen vollkommen still. Ihre Umrisse konnte er ganz deutlich erkennen. Auf einmal riss es ihn. Unten hatte jemand gejauchzt. So, als ob jemandem vor lauter Freude beinahe das Herz zerspringen wollte. Vor dem inneren Auge sah er einen Mann in Lederhosen und mit Steirerhut und sein strahlendes Gesicht. Einen Mann, der sein Lebensglück kaum fassen konnte und es in die Welt hinausschreien musste. Und über alle dem erklangen weiterhin die Violinen, Tuben, die Ziehharmonika und die Teufelsgeige. Ganz blass hörte er einen Trommler sanft und mit hohem Rhythmus die Schlagstöcke auf das Leder schlagen.

„Das ist unglaublich“, sagte er. Er musste sich mit dem Daumen- und Zeigefingernagel am Handgelenk in die Haut zwicken. Nein, er träumte nicht. Er war hellwach und abermals vernahm er einen Jauchzer.

„Wohin gehen sie?“, fragte er. „Über die Wiesen, Geröllfelder und Latschenteppiche weiter hinein ins Gebirge? Wohin? Jetzt, bei diesem Regen.“

Die Musik wurde lauter. Jetzt waren sie ganz nah. Nun hörte er sie auch ganz deutlich singen.

„Etwas ist klar“, flüsterte er. „Diese Geschichte wird dir niemand glauben. Niemand. Sie würden dich für verrückt halten.“ Am liebsten wäre er jetzt hinunter zum Karrenweg gegangen. Aber er wusste, dass das nicht ging, denn die Schmerzen im Knie waren kaum zu ertragen. Langsam wandte er sich vom offenen Fenster ab und schlurfte zurück zum Bett.

„Niemand“, flüsterte er, als er sich zudeckte und sein Kissen zurechtschüttelte und danach seinen Kopf darauf bettete.

„Glaubt dir kein Mensch. Kein Mensch glaubt dir das.“

Draußen spielte jemand immer noch auf seiner Geige. Und noch immer erklangen die Ziehharmonika und die Tuben. Die Stimmen waren ein wenig blasser geworden, aber sie waren immer noch deutlich zu hören.

Kurz lag er da und horchte.

„So“, sagte er dann plötzlich und erhob sich wieder. „Ich will das jetzt sehen.“

Rasch schlüpfte er in die Hose und in die Schuhe, warf sich die Regenjacke über, entriegelte die Tür und trat mit einer Taschenlampe hinaus in den Regen. Sein linkes Knie schmerzte und es schmerzte noch mehr als er den steilen, rutschigen Pfad zwischen den Steinen und dem hohen Gras hinab zum Weg humpelte. Dort unten, auf dem Karrenweg mussten sie sein, denn das war der einzige Weg. Er spürte wie sich seine Schuhe mit Wasser vollsogen. Sein Knie schmerzte immer heftiger, aber trotzdem beschleunigte er seine Schritte. Er musste es sehen. Als er den Weg endlich erreichte und die Taschenlampe ausknipste, blieb er stehen und horchte taleinwärts. Und dann sah er es. Eine, zwei, drei, zehn erhellte Laternen. Laternen, wie sie früher von Nachtwächtern oder Bahnwärtern getragen wurden. Im Licht der Lampen blinkte manchmal der Glanz eines Blechinstruments auf. Er sah alte Trachten, hörte den Gesang und vernahm das ausgelassene Lachen von Frauenstimmen, und Augenblicke später beklagte sich eine Violine schmerzvoll über die Zeit, die in diesen wunderbaren Stunden des Feierns und Singens so rasch verflog. Er spürte den Regen nicht mehr, der auf ihn herabprasselte und auch nicht das schmerzende Knie. Vorne, nach einer Wegbiegung, verschwanden sie. Ein Licht nach dem anderen. Ein Instrument nach dem anderen. Und dann schüttelte er ungläubig den Kopf. Ein Mann in Lederhosen blieb auf einmal stehen und drehte sich um. Der Mann hob sogar kurz seinen Steirerhut und gab einen Jauchzer von sich. In der Dunkelheit sah er nur eine Silhouette und wie der Mann den Hut wieder auf seinen Kopf setzte und langsam davonging.

„Das glaubt dir keiner,“ flüsterte er. Dann verstummte er und blickte minutenlang sprachlos auf den Karrenweg und in die Dunkelheit. Er hörte den niederprasselnden Regen. Manchmal drangen noch Gesangsfetzen an sein Ohr, der Klang einer Tuba und das abgerissene Schellen einer Teufelsgeige.

„Das glaubt dir keiner“, flüsterte er abermals, als er langsam zurück zur Hütte humpelte. Im Licht der Taschenlampe sah er Strähnen von Regen, das nasse Gras, das Gelb von Blumen, helle Steine, Bäume und wandernde Schatten.

Sein Herz klopfte noch immer vor Aufregung, als er später im Kerzenlicht am Küchentisch saß und sich das schmerzende Knie rieb. An Schlaf war nicht zu denken. Und es bestand nicht der geringste Zweifel. Er hatte das soeben alles gesehen. Die Laternen, die Menschen in ihren alten Trachten, die Instrumente und er hatte ihre Musik gehört.

„Unfassbar“, sagte immer wieder. „Unfassbar. Einfach unfassbar.“

 

Jürgen-Thomas Ernst, 4.8.2021 – Bregenz